Morotana

Stadtviertel der Allianzhauptstadt

Vorstadt (Orjayela) des äußeren Rings der Allianzhauptstadt, geschätzte 25.000 Einwohner aller Rassen.

Der Strom fließt auf ebener Fläche und ziemlich träge über die Ebene, durchschneidet jedoch schließlich einen letzten Hügelkamm, durch den sich das Schiff eilig, so als empfinde es selbst Neugier, hindurchschiebt.
In der Tat ist der erste Blick auf die Hauptstadt der Allianz, der herrschenden Hochkultur Mradoshans, schlichtweg überwältigend. Von einem Augenblick auf den anderen wandelt sich der Fluß zu einer geraden Wasserstraße, die von vielfältigsten Brücken und sogar Bauwerken überspannt wird. Links und rechts des Ufers, eingebettet in eine Landschaft aus kastenförmigen Bauten, grob an Stufenpyramiden erinnernd, doch höher und schlanker, liegen verstreut kleine Gärten auf den Dächern. Von Turm zu Turm spannen sich - ähnlich wie in Chiàn - schmale, zerbrechlich wirkende Brücken. Die Häuser am Ufer, höher als die anderen, schicken sich gar gegenseitig Brücken zu, die mutig und mit kühner Eleganz kurzerhand über den Strom setzen, der hier immer noch viele Dutzend Vat breit ist. Hinter den ersten Ansammlungen von Häusern, an sich schon so groß wie die gesamte Unterstadt von Estichà, klettern die Häuser zahlreiche Hügel hinauf, haben sie überwuchert wie ein dichter Pflanzenteppich einen von der letzten Baustelle vergessenen Haufen Erde erobert.
"Das hier ist Morotana" weiß Akjan zu berichten "eine sogenannte Orjayela, eine Vorstadt. Seit gut 200 Jahren, seit Gründung der Allianz als die Stadt eine einheitliche Regierung bekam, war es das Bestreben der Stadtregierung, die Viertel der Innenstadt zu entlasten und ganze Satellitenstädte zu bauen. Dies hier ist eine davon. Es lebt sich hier recht gut, ist zwar etwas abgelegen, aber ruhig und beschaulich. Sind etwa 25.000 Einwohner hier in diesem Viertel."
25.000 Einwohner: Mehr als Estichà und so viel wie Bet-Narekem und Gilgat zusammen! Und doch nur eines von über 200 Stadtvierteln, nicht einmal bedeutend. Nach einer viertelstündigen Fahrt nähert sich das Schiff dem Zentrum von Morotana. Zwei wuchtige, kantige Türme erheben sich direkt am Ufer, auf einigen Stockwerken ist die Front von schweren Säulen unterbrochen, unterhalb derer sich die Türme verbreitern und auch so den Eindruck zweier Stufenpyramiden hinterlassen. Was sich vor den Türmen erstreckt, die große ebene Fläche, wirkt zunächst wie ein Platz, stellt sich jedoch nur als das Dach eines größeren Gebäudekomplexes unterhalb der Türme heraus. Auf diesem erheben sich die typischsten Symbole für die Haupstadt: Statuen. Statuen allerdings, die vom Scheitel bis zur Sohle gut 20 Vat messen dürften und allesamt Chirà zeigen, die in verschiedensten Gesten, meistens jedoch majestätisch und herrisch zum Horizont blickend oder weisend, die Herrlichkeit und Macht der chiranischen Kultur verehren sollen.
Weitaus beeindruckender jedoch als die Verwaltungsgebäude und die großen, in mondäner Verschwendung von Platz geplanten Monumentalbauten rund um so etwas wie einem Hauptplatz ist jedoch der Blick nach vorne, dorthin, wo der Strom fließt: der Horizont nämlich wird von einer - allerdings noch weit entfernten - Steilwand beherrscht, deren oberer Grat vollständig bebaut ist. Gebäude, die ganze Bergrücken einnehmen, funkeln im verlöschenden Licht des Tages, wie steingewordene Monstrositäten der Urzeit, manche von bedrückender, beklemmender Gewalt in ihren kantigen Formen, andere von filigraner, unwirklich in ihren grazilen Formen wirkenden Eleganz, prangen dort über noch unentdeckten Stadtvierteln. "Unterhalb dieser Steilwand", erzählt Akjan "liegt der Hafen der Hauptstadt. Die Viertel des mittleren und des inneren Rings liegen alle dort oben. Hier unten sind nur Vorstädte, nicht mehr als ein Zehntel der Hauptstadt, ungefähr 400.000 Einwohner, so schätzt man. Wissen tut das keiner so genau, wieviele hier leben."
Vierhunderttausend Einwohner! Eine für Miran nicht mehr faßbare Zahl an Lebewesen. Man sagt, es leben weniger als diese Zahl von Menschen überhaupt in ganz Mradoshan. Und sie alle würden die Hauptstadt nicht einmal zu einem Zehntel füllen...
Der anfänglichen Begeisterung für die Hauptstadt weicht mit einem Mal eine merkwürdige Art von Beklemmung. Das alles ist viel zu groß, beängstigend groß. Wie kann man in Estichà oder Gilgat nur auf etwas stolz sein, auf etwas Erreichtes? Wie haben die Taten und Handlungen aller Einwohner Yedeas überhaupt nur eine Auswirkung auf das Geschehen der Welt in Anbetracht dieser hier versammelten Massen? Blicken die Götter überhaupt auf kleine Flecken am Rande der Welt, wenn hier, auf einem Ort versammelt 30 mal mehr Wesen leben als in allen anderen Städten der bekannten Welt zusammen?
"Captain, wir sollten dort vorne anhalten und die Nacht verbringen", sagt der Steuermann und deutet auf eine Anlegestelle am Strom, an die ein Gasthaus angeschlossen ist.