Nachdem im Jahre 667 v. A. die Bürger und Priester Garapurs, die ausgezogen waren, den Tempel der Shamar niederzubrennen, nie wieder zurückkehrten, war das Tal hinter Garapur Bannland. Niemand wagte es, sich den geschwärzten Ruinen der gewaltigen Tempelanlage zu nähern - zunächst. Doch die damalige Zeit war auch von einem ungeheuren Strom an menschlichen Zuwanderern geprägt, die den Großen Strom hinauf den alten chiranischen Städten entgegenzogen. So kamen auch viele nach Garapur. Die Zuwanderer waren nicht gerade gern gesehen unter den Chirà der Stadt und so suchten bald immer mehr Menschen Unterkunft in den alten Shamar-Ruinen.
Mit jenem Tal jedoch vollzog sich in den folgenden Jahrzehnten eine langsame, zunächst unbemerkte, doch bald schicksalhafte Wandlung: Aus den alten Tempelgemäuern, den unterirdischen Kavernen und Grabkammern sprossen üppig wachsende Pflanzen hervor, Arten, die kein Gelehrter zuvor gesehen hatte, prächtig und bizarr in Farbe und Form. Ranken und Lianen schlangen sich um die Säulen des zerstörten Tempels, sprengten Mauern und trugen auf ihrem Rücken Ableger und Sprößlinge jener Pflanzen in immer weitere Teile der Ruinenanlage. Bei alledem wirkte jedoch nichts bedrohlich, nichts feindselig, und scheinbar rücksichtsvoll wuchsen die Pflanzen um Türen herum, ließen fast willentlich (so absurd dies bei Pflanzen klingen mag) Durchgänge für diejenigen frei, die sich die alten Gemäuer als neue Heimat auserkoren hatten, begannen Dächer zu formen, dünne Sprößlinge wuchsen über Jahrzehnte zu fremdartigen Bäumen heran und ihre Stämme waren wie Säulen. Jahrzehnt um Jahrzehnt breitete sich dieser wundersame Teppich weiter in den Ruinen aus, überschritt schließlich ihre Grenzen und nahm einen Teil des Tales in seinen sanften Griff. Die exotische Schönheit und die stille Friedlichkeit dieses ständig in Bewegung und Veränderung scheinenden Gartens ließ bald die Furcht der Einwohner Garapurs vor diesem Ort schwinden und wie selbstverständlich lebten sie alsbald inmitten der vor Leben pulsierenden Pracht. Sie wohnten unter dem schützenden Dach des dichten Flechtwerks aus fleischigen, breiten Blättern, ließen sich zum Schlafen auf dem gewachsenen, dichten, weichen Moos nieder oder hängten ihre Kleider in die herunterbaumelnden, zusammengebunden Luftwurzeln ihrer neuen Heimat.
Nun, viele Jahrhunderte nach dem Beginn dieses Prozesses raubt Rashama jedem Betrachter unserer Tage den Atem: eine bisweilen über ein Dutzend Vat dicke Flut aus lebenden Wänden, Dächern, Kuppeln und bergartigen Türmen hat den Boden des Tals gänzlich ausgefüllt, durchzogen von einigen Wasserströmen und durchsetzt von kleinen Seen. Es gibt keine Gassen, sondern nur auf und absteigende, rundum verwachsene Tunnel durch die vor Leben bebende und pulsierende Stadt, durchsetzt von Kammern und Räumen in denen alle bekannten Völker nebeneinander leben und arbeiten. Schächte und Korridore im Flechtwerk der Gewächse lassen das Licht auch in den entlegensten Teil Rashamas auf wundersame Weise hineinfallen, obwohl sich alles ständig langsam zu bewegen scheint - Gänge verschwinden im Laufe von Monaten und neue Entstehen, Bäume, scheinbar tief im Geflecht verwurzelt und ihre Häupter in den Himmel reckend wandeln im Laufe der Jahre durch die Stadt und ein geduldiger Beobachter mag bemerken, wie sich der gewachsene, aus einem dichten, weichen Netzwerk bestehende Boden unter seinen Füßen langsam hebt und senkt und sich die feinen, schlangenartigen Äste und Zweige umeinander winden, ja einzelne Pflanzen haben sich gar vom großen Netzwerk getrennt, sind über Wochen durch das Blattwerk nach oben gekrochen und recken nun dort die bunten, schillernden Köpfe ihrer Blüten in die Sonne Chrestonims.
Wie viele Menschen, Chirà, Unuim und Sragon in Rashama wohnen, vermag keiner zu sagen. Es mögen Tausende sein. In den Regionen Rashamas, die nahe an der Grenze zu Garapur liegen, haben zahlreiche Handwerker eine Unterkunft im atmenden Gebälk der lebenden Wohnungen gefunden, Schreiber, Hebammen, Schuster, Kurtisane, alles wird man hier finden, sogar einen Schrein der Mehdora und mehrere Gasthäuser und Herbergen. Die Einwohner treten dem sie umgebenden Leben mit Respekt entgegen - nur selten werden die wichtigsten Tunnel, Räume und Korridore mit Messer und Beil freigehalten, reagiert die Stadt auf Mißhandlungen, gerade mit Feuer doch bisweilen mit dem erstaunlich schnellen Verschließen zahlreicher Räume und Gänge, sowie mit der scheinbar warnenden Zuwucherung einzelner Wohnungen.
Erstaunlicherweise vermag Feuer wenig gegen die Pflanzen auszurichten: ein durch Blitzschlag entstandener Brand vermochte nicht mehr als eine etwa zehn Vat breite Lichtung in den Teppich zu brennen, denn die glatten, fleischigen Blätter lassen sich nur sehr schlecht entzünden, enthalten sie doch viel Wasser.
Doch die Stadt schützt ihre Einwohner durch das Geflecht auch vor den mörderischen Bestien der Senke, die direkt vor der Haustüre Rashamas beginnt.
Aus den Tiefen der lebenden Stadt hört man indes wunderliche Geschichten: man erzählt von den wundersamsten Gewächsen, die auf ihren Wurzeln laufen könnten wie Tiere auf ihren Beinen, bepelzte Äste ragen durch manches Zimmer und Blumen, deren Blüten entfernt an menschliche Hände erinnerten. Angeblich sollen auch immer wieder ganze Familien von dem großen Gewächs verschlungen werden, wenn ihre Eingänge des Nachts zuwuchern. Manch einer, der sich selbst als Weiser bezeichnet, behauptet gar, das sei der Tribut den die Stadt von ihren Bewohnern für ihren Schutz und die Geborgenheit for-
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