Haccuya
Ganz ruhig saß er da. So ruhig wie er nur konnte, so ruhig, wie er immer war, wenn er auf Jagd ging. Es war feucht und glitschig, wie immer. Das Dämmerlicht machte seine Aufgabe nicht leichter. Er war gut geschützt, dort, wo er war. Er saß auf einem der Baumstämme. Woanders konnte man auch nicht sitzen, denn es gab nur Baumstämme. Soweit er sehen konnte nur Baumstämme. So etwas wie Erde kannte er nicht, auch keinen Himmel. Für ihn bestand die ganze Welt nur aus Baumstämmen. Wäre er daran interessiert gewesen, nach oben zu sehen - und wären seine Augen etwas zuverlässiger - so würde sich ihm ein zweifellos beeindruckendes Bild bieten: Dutzende, ja vermutlich hunderte von Baumstämmen, dicht ineinander verhakt und auf ewig miteinander gefangen türmten sich übereinander und durcheinander. Wahrscheinlich bis zum Tageslicht nach oben. Ständig floß Wasser von oben in die Tiefe durch das feste Gitterwerk der verkeilten Baumleichen, heftete sich an ihre mit Moos überwachsenen Körper und schlich an ihnen hinunter in die Tiefe.
Er harrte immer noch seiner Beute. Er wußte nicht, daß weiter oben, dort wo die Bäume noch das Licht erreichten und mit Hilfe feiner Wurzeln die Lebenskraft aus ihren Vorgängern saugten, Artgenossen von ihm bedeutend mehr Beute fingen.
Langsam setze er seinen Fuß vorwärts auf dem weichen Moos dieses Stammes, den er schon seit Jahren bewohnte. Er war den Baumstamm nie bis zum Ende gelaufen, ein großer Pilz versperrte ihm den Weg. Er wollte auch nicht versuchen, um ihn herumzuklettern. Wäre er abgerutscht, wäre er für immer in der Tiefe verschwunden. Wie sah sie aus die Tiefe? Sie war noch dunkler und noch dichter als das, was über ihm war. Das Geflecht mochte sich viele hundert, wenn nicht gar tausend Stämme tief fortsetzen. Was dort unten war, interessierte ihn jedoch nicht. Interessanter war da der Falter, der vor ihm auf einem von einer Flechte bewachsenen Ast gelandet war. Langsam schlug er mit den Flügeln auf und ab.
Er wartete.
Auf und ab.
Dann ließ er seine Zunge hervorschnellen, ergriff den Falter und zog ihn in sich hinein. Selbstzufrieden wendete er, die Flügel noch aus seinem breiten Maul herausragend und kroch seiner Baumhöhle entgegen. Diese Beute würde ihn für drei weitere Wochen ernähren.
"Die erfolgversprechendste Methode, das Geflecht wenigstens in seinen oberen Schichten zu durchdringen, scheint die zu sein, ein Seil oben fest an einem der gesunden Bäume zu befestigen und dann an ihm hinunterzusteigen. Es hat aber keinen Sinn, lange Gegenstände wie Speere oder eine Jigara mit hinunter zu nehmen, auch ein Rucksack hat sich als wenig praktisch erwiesen. Denn schon alsbald wird das Geflecht so dicht, daß man sich wahrhaftig zwischen zwei eng nebeneinander liegenden Stämmen hindurchzwängen muß, um überhaupt voran zu kommen. Haken, die man in die Rinden der abgestorbenen Bäume haut, haben sich insofern als problematisch erwiesen, als daß das Holz doch schon arg angefault ist, da es auch ständig von den mittäglichen Regengüssen umflossen wird. So reißt man mit dem Haken, sobald man ihn belastet doch ein rechtes Loch in den Stamm. Das Umbinden mit Seilen ist nur bei großen Stämmen zu empfehlen, die kleineren Brechen häufig durch. Ist man ganz still, hört man es ohnehin aus der Tiefe häufig bedenklich krachen und man glaubt, ein leichtes Zittern durchlaufe das gesamte Haccuya-Geflecht. Wahrscheinlich gibt das Geflecht immer leicht nach, wenn unten durch das eigene Gewicht Baumstämme zerbrechen.
Wie tief wir gekommen waren, war fast unmöglich abzuschätzen, aber wir hatten bald unser zweihundert Vat langes Seil abgewickelt und da wir manches mal eine Kurve klettern mußten, schätzte ich unsere Tiefe auf wohl achtzig bis einhundert Vat. Unser Senkblei, daß wir von dort aus hinunterließen stieß einige Male deutlich auf Widerstand, doch schließlich konnten wir alle 400 Vat des Seiles abwickeln, ohne daß es ganz Steckengeblieben wäre. Je tiefer man kommt, desto dünner scheint das Geflecht wieder zu werden. Wir vermuten, daß es sogar regelrechte Höhlen gibt, also große Räume, frei von Stämmen.
Eine Schätzung abzugeben, wie tief nun das Geflecht ist, ist mir unmöglich. In Anbetracht der Tatsache, daß das Tal von Haccuya ohnehin schon sehr tief liegt (nach den Berechnungen von Unija Neccani Chraniac bereits unter dem Meeresspiegel), so dürfte sich das Haccuya-Tal ohne das Geflecht vielleicht bis zu tausend Vat in die Tiefe reichen.
Die Bestätigung der Gerüchte, daß dort unten noch ein Volk von Menschen leben soll, konnten wir nicht erbringen, derartige Behauptungen allerdings auch nicht widerlegen."
— Expeditionsbericht der Reyuna Tivar Akkrijel vom Tempel der Arivara in Chiàn, 191 der Allianz
"Aber wenn ich es euch sage, es gibt sie, die Haccuyas. Wild sehen sie aus, mit Moos und Pilzen auf ihrem Kopf statt Haaren. Lange, spitze Finger haben sie, ganz grüne Haut, vielleicht auch von Moos bewachsen, es war ja so dunkel. Ganz sicher liefen sie auf den rutschigsten Baumstämmen, ja sie wohnten sogar auf ihnen. Ich habe eines von ihren Behausungen gesehen. Große Häute irgendwelcher Tiere haben sie zwischen den Stämmen aufgespannt und darin gelebt. Ich habe mit einer alten, greisen Chirà gesprochen, die schon lange bei ihnen lebt und es vor Jahren zu ihnen verschlagen hat. Sie hat erzählt, ganz tief unten im Geflecht gebe es einen Zugang zu einer anderen Welt. Ganz anders, als das Geflecht, viel wunderlicher. Keine Bäume, sondern aus Waffenstahl oder so etwas ähnlichem. Sie sprach auch von der Zwischenwelt. Stellt Euch vor, wenn es dort tatsächlich ein Schattentor in die Zwischenwelt gäbe, dann..."
— Erzählung der Matrosin Rea Siebenfinger auf der "Essora", einem Handelsschiff aus Rash-Magapur