Würde die Halbinsel von S'Chor eines Nachts einfach für immer in den Fluten des Metchà verschwinden - es würde niemand wirklich bedauern. Schon von weitem kündigt sich das von Stechmücken und Giftschlangen verseuchte Land durch schwimmende Inseln von Mangroven an, die wie grüne Geisterschiffe oft weit in den Metchá hinaustreiben. Das Land selbst ist schlammig und unsicher - in Küstennähe mag man noch mit einem Einbaum oder Kahn einige Yevan vorankommen, doch gibt es immer wieder Schlammbänke oder Felder von Wasserpflanzen, die jegliche Reise per Schiff abrupt beenden können und den Reisenden zwingen, sich auf das Waten im trüben Schlamm zu verlegen.
Weiter im Inneren der Halbinsel zieht sich über den Sumpf schließlich eine schier undurchdringliche Schicht von Mangrovenwurzeln und Schlingpflanzen, in der auch die erfahrensten Sumpfratten, wie die hiesigen Wildnisführer manchmal genannt werden,
schnell die Orientierung verlieren.
Ganz im Zentrum der Sümpfe von S'Chor soll der Boden langsam fester werden und eine sanfte Hügelkette erhebt sich aus der grünbraunen Hölle. Diese Hügel sollen Heimat einiger eigentümlicher Sragonstämme
sein, die noch zahlreichen alten Riten der untergegangen Sragonkönigreiche folgen und auf menschlichen Besuch wohl außergewöhnlich feindselig reagieren.
Einzige erwähnenswerte Siedlung der gesamten Region ist Men-Achor, in alten Schriften auch noch Beq-Jefid genannt.
So nennen sich voller Stolz die Bewohner Men-Achors, zumindest diejenigen, die auf den unzähligen Schiffen und Hausbooten der Stadt geboren und aufgezogen wurden. Noch nie in ihrer Geschichte wurden die Achorah von einem anderen Volk oder Staat beherrscht und ihre Freiheit ist ihnen ihr höchstes Gut. Das, was sie jedoch als Freiheit bezeichnen, findet sich in den Beurteilungen von Besuchern und Reisenden in Wörtern wie Willkür, Barbarei, Gewalt, Anarchie und Faustrecht wieder. Es gibt keine Regierung, keine Verwaltung, keine Richter und auch keine allgemeingültigen Gesetze. Vielmehr herrscht jeder über seine eigene Welt, sei es das eigene Schiff, das eigene Bordell oder die eigene Familie - und all das gilt es oft genug mit Säbel und Fäusten zu verteidigen.
Wenngleich der Rest der Welt steif und fest behauptet, jeder Achorah sei ein Pirat und Mordbrenner, so entspricht dies freilich nicht den Tatsachen, gibt es doch auch genug Handwerker, Gastwirte, Bauern, Fischer und Kleinhändler unter ihnen. Doch hat die Halbinsel außer einigen wenigen Nahrungsmitteln wie Fisch und ein wenig Wild, sowie Reis und Zukkerrohr wenig zu bieten und das gewundene, oft faulige Holz ist nur mühsam herbeizuschaffen. Deshalb
hat die Piraterie in der Tat eine lange, erfolgreiche Tradition unter den Achorah und der Großteil der Rohstoffe und Waren, mit denen auf dem Markt von Men-Achor gehandelt wird fand sich auf einem Handelsschiff, das nun auf dem Grund des Metchà liegt. Zwar kann es kaum ein Schiff aus Men-Achor mit einer chiranischen oder vorovisianischen Kriegsgaleere lange aufnehmen, aber ihre Wendigkeit und Geschwindigkeit machen sie trotz allem zu gefährlichen Gegnern, und ihr geringer Tiefgang ermöglicht es ihnen, sich in Flußmündungen oder flache Buchten zurückzuziehen, in die ihre größeren und schwerer bewaffneten Gegner nicht folgen können.
Wenn die Einwohner Men-Achors, die "Achorahs", ihre Heimat auch 'Stadt' schimpfen, so huscht dem (meist unfreiwilligen) Besucher etwa aus Estichà bei diesem Wort nur ein mitleidiges Lächeln über das (wahrscheinlich zerschundene) Gesicht. Unzählige Pfahlbauten haben sich mit Dutzenden von Schiffen und Hausbooten, manche noch fahrtüchtig, andere schon marode und über Stege und Brücken oft untrennbar mit den Pfahlhäusern und untereinander verbunden zu einem schwankenden, knarrenden Ganzen zusammengefügt, das man landläufig Men- Achor nennt. Das Wasser ist schmutzig und trübe,
Unrat und Schiffsleichen (und auch andere Leichen...) treiben zwischen und unter den Behausungen hindurch. Es gibt nur wenige Stellen festen Erdbodens in der Stadt. Auf einer von ihnen ist der Hafen mit dem sporadisch stattfindenden Hafenmarkt errichtet, umgeben von einigen wenigen Steinbauten.
Umso erstaunter sind manche Ortsunkundigen, kommt ihnen zu Ohren, daß die Vanorpriesterschaft hier einen Tempel unterhält. In der Tat stellt der Tempel des Meeresgottes etwas ganz besonderes dar: nicht nur, daß er in seiner Form einer überdimensionierten Muschel nachempfunden ist und von außerordentlicher Schönheit ist, sondern er steht auch weit draußen im Meer am Ende eines Steges auf einer
Insel aus purem Eisen, die sich wie eine flache Felsnadel aus dem Wasser erhebt.